Mitte der 50er Jahre sorgte die Nitribitt-Affäre in Deutschland für großes Aufsehen und machte ein Fahrzeug auf einen Schlag noch bekannter, als es ohnehin schon war: den „kleinen SL“, den Mercedes-Benz 190 SL Roadster. Seit 1955 wurde diese offene Schönheit parallel zum größeren 300 SL gefertigt und kam bei den Kunden gut an. Mit seinen 105 PS war er im Vergleich zum 300 SL jedoch eher Cabrio als Sportler.

Mercedes-Benz 190 SL

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Fangen wir ganz vorne an. Anfang der 1950er Jahre wünschte sich Maximilian Hoffman, US-amerikanischer Mercedes-Benz-Importeur, von den Stuttgartern zwei Sportmodelle, um das Modellprogramm in den USA aufzufrischen. Bereits Anfang 1954 standen die ersten beiden Prototypen auf der New York Motor Sports Show. Neben dem großen 300 SL Coupé, das auf Basis des seit 1952 erfolgreichen Rennmodells aufgebaut worden war und mit seinen Flügeltüren eine neue Ära begann, handelte es sich noch um den 190 SL, der als Einstiegssportler ins Portfolio der Schwaben rücken sollte.

Während des restlichen Jahres wurde der noch nicht fahrfertige 190 SL-Prototyp zur Serienreife weiterentwickelt. Dabei wurden auch einige optische Anpassungen durchgeführt. So verfügte das Showfahrzeug noch über eine Lufthutze auf der Motorhaube und glatte hintere Kotflügel. In der späteren Serie fanden sich auf den Kotflügeln ähnliche Lanzetten wie am 300 SL. Im März 1955 wurde die fertige Version schließlich in Genf vorgestellt und ging zwei Monate später in Produktion.

Passend zum Namen sollte der 190 SL mit seiner aerodynamisch geformten Karosserie bis zu 190 km/h erreichen können. Der 1,9 Liter große Vierzylinder-Motor mit seinen 77 kW/105 PS in Verbindung mit dem Leergewicht von 1.180 Kilogramm ließen jedoch nur 175 km/h Spitzengeschwindigkeit zu. Damit gehörte der offene Stuttgarter jedoch keinesfalls zu den langsamen Autos seiner Zeit. Immerhin waren Mitte der 50er Fahrzeuge wie der VW Käfer und die BMW Isetta an der Tagesordnung.

So verwundert es auch nicht, dass bei einem Preis von mindestens 16.500,- DM lediglich Berühmtheiten hinterm Steuer des Mercedes-Benz 190 SL platz nahmen, immerhin bekam man für zwei 190 SL bereits ein ordentliches Einfamilienhaus. Von den 25.881 gebauten Exemplaren gingen 20.636 Fahrzeuge in den Export, größtenteils in die USA. Unter den berühmten Besitzern waren unter Anderem Gina Lollobrigida, Zsa Zsa Gabor, Ringo Starr und Alfred Hitchcock. Der bis heute mit dem Auto am Meisten verbundene Name lautet jedoch Rosemarie Nitribitt. Sie arbeitete als Edelprostituierte in Frankfurt/Main. Ihr Markenzeichen war ein schwarzer 190 SL mit roten Ledersitzen, dessen Herkunft nicht 100%ig geklärt ist. Ob sie wirklich soviel Geld bei ihren Freiern aus Wirtschaft und Politik verdiente oder den Wagen von einem ihrer Kunden geschenkt bekam, liegt im Dunkel der Geschichte. Ebenso die wirklichen Umstände ihres plötzlichen Todes Ende Oktober 1957, als sie ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Der Fall beschäftigte damals ganz Deutschland wochenlang und sorgte in seiner Folge für viele Vertragsstornierungen von 190 SL-Kunden, die kein Fahrzeug mit „fragwürdigem Ruf“ fahren wollten.

So kann sich die Zeit ändern. Was damals rund ein Jahr lang schlecht verkäuflich war, hat sich heute zum gesuchten Klassiker gemausert. Gut erhaltene oder perfekt restaurierte 190 SL durchbrechen immer häufiger die 100.000,- €-Schallmauer. Auf großen Oldtimer-Veranstaltungen sieht man das Fahrzeug zumeist im halben Dutzend. Und wer kann es den Besitzern schon verdenken, bei diesen knackigen Formen?

Der Wagen erinnert nicht ohne Eigennutz klar an den großen Bruder 300 SL. Zum Einen sollte so die Markenzugehörigkeit demonstriert werden, zum Anderen sollte der „kleine SL“ natürlich auch vom sportlichen Ruhm des Großen profitieren. Gegenüber diesem hat die Motorhaube nur einen Powerdome. Anfangs sollte es den 190 SL lediglich in silber geben, was jedoch kurze Zeit später geändert wurde. Bis 1957 gab es 12 Serienlackierungen, ab ’57 schließlich 39 Farbtöne. Vergleichen Sie das einmal mit heutigen Farbkarten. Daneben gab es stets die Möglichkeit eine eigenständige Individaulfarbe oder eine Zweifarblackierung zu ordern. Das optionale Hardtop konnte ebenfalls auf Wunsch in einem Kontrastfarbton bestellt werden. Jenes Hardtop wurde im Übrigen während der Bauzeit mehrfach modifiziert.

Die Sonderausstattungsliste des 190 SL ist für einen Mercedes-Benz äußerst kurz gehalten. Neben den bereits erwähnten Lackoptionen enthält sie noch ein Heizungs- und Defrostergebläse, eine Scheibenwaschanlage, eine Lichthupe, einen Bremskraftverstärker, eine kräftigere Hupe, eine Uhr im Handschuhfachdeckel und eben jenen als abschließbare Version. Heute selbstverständliche Dinge kosteten damals also noch ordentlich Aufpreis und verteuerten den offenen Traum auf Rädern noch einmal. Ab dem zweiten Produktionsjahr gehörten diese Details daher auch beim 190 SL zum Serienumfang. Weiterhin aufpreispflichtig blieben die Sonderfarben, in Europa die Stoßstangenhörner (in den USA Serie), das Hardtop mit einer Holzkiste für die Aufbewahrung, Nebelleuchten, ein Becker Radio, Ski-Halterungen, ein dritter Sitzplatz und verschiedene maßgefertigte Reisekoffer. Ab 1961 gab es optional die ersten Sicherheitsgurte.

Der Innenraum orientiert sich ebenfalls am großen Bruder. Vier MB-Tex-Farben und zehn Ledertöne standen zur Wahl und ermöglichten recht individuelle Kombinationsmöglichkeiten in Verbindung mit der Lackierung. Hinter den Sitzen konnte man wahlweise zwei große Koffer mitnehmen oder den optionalen dritten Sitz quer zur Fahrtrichtung einsetzen. Als Anfang Februar 1963 der 25.881. 190 SL in Sindelfingen das Band verließ, hatte der Wagen über die Jahre einige Modellpflegemaßnahmen über sich ergehen lassen müssen, die jedoch größtenteils beinahe unbemerkt vonstatten gingen. Ob mehr Chrom oder größere Heckleuchten, Stoßstangenhörner mit Kennzeichenbeleuchtung oder lederbezogene Sonnenblenden, alle Änderungen kamen dem 190 SL durchaus zu Gute und machten ihn nur noch besser.

Lediglich 17-mal wurde die Option bestellt, aus dem 190 SL ein Motorsportfahrzeug für Renn- und Rallye-Einsätze zu machen. Hierbei konnte die Frontscheibe durch eine kleine Plexiglas-Scheibe vor dem Fahrer getauscht werden, Stoßstangen und Verdeck verblieben ebenfalls in der heimischen Garage. Anstelle der Serientüren wurden Leichtmetall-Exemplare ohne Seitenscheiben verbaut. Allerdings hatte der Wagen auf den Rennpisten keine großen Chancen, da er in eine Fahrzeugkategorie fiel, in der viel stärkere Konkurrenten antraten. So blieb der größte Erfolg ein Sieg bei einem Rennen in Macau, bei dem ein 190 SL „Sportroadster“ privat eingesetzt wurde. Heute ist kein Original mehr bekannt, allerdings gibt es viele Nachbauten auf Basis von „normalen“ 190 SL Roadstern.

Quelle: Mercedes-Benz

Autor: Matthias Kierse