Mit der Alpine A110 gelang Jean Rédélé vor 50 Jahren ein ganz großer Wurf. Und dabei ist das Fahrzeug an sich so klein und flach, dass es in Frankreich den Spitznamen „le Turbot“, der Plattfisch, erhielt. Trotzdem konnte die A110 sich in die Herzen der Sportwagen- und Rallyefans fahren. Bis 1977 bleibt das Leichtgewicht optisch nahezu unverändert im Programm, technisch erstarkte die Flunder über die Jahre auf bis zu 240 PS.

Alpine A110

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Hier wurde der Wagen weltbekannt: Auf den Rallyepisten dieser Welt sorgten das Werksteam und Privatfahrer für graue Haare bei der jeweiligen Konkurrenz.

In den 1950er Jahren liefen bei Renault zwar interessante Fahrzeuge vom Band, aber Sportlichkeit gehörte nicht unbedingt zu den Kernargumenten, mit denen sie angepriesen werden konnten. Dies gefiel einem Renault-Händler in Dieppe an der Kanalküste Frankreichs ganz und gar nicht, schließlich ließ sich aus Fahrzeugen wie dem 4CV durch einfaches Tuning bereits viel machen. Dies bewies er unter anderem 1954 mit einem Sieg bei der Coupe des Alpes. Um wenigstens in seinem Kundenstamm mit seinen Sporterfolgen Geld zu verdienen, beginnt er im Jahr darauf damit, auf dieser Basis ein erstes eigenes Sportmodell zu bauen, dem er in Erinnerung an seinen Sieg den Namen „Alpine“ gibt. Es handelt sich um die Alpine A106 mit Kunststoffkarosserie und getuntem 4CV-Triebwerk. Wer dieser Händler war? Kein geringerer als Jean Rédélé, dessen Name bei Rallyefans bis heute einen guten Klang hat.

Daran sind jedoch weder seine eigenen Sporterfolge, noch sein Händlerbetrieb Schuld. Auch der A106 war nur eine erste Kostprobe seines Könnens, jedoch noch kein großer Verkaufserfolg. Ebenso ist die drei Jahre später eingeführte Alpine A108, die es wahlweise als Cabrio oder Coupé gibt, zwar im Rückblick gesehen mit zahlreichen Sporterfolgen ein Wegbereiter, aber gegenüber dem Geburtstagskind, über das hier eigentlich berichtet werden soll, lediglich ein kleines Licht in den Geschichtsbüchern der französischen Automobilindustrie. 1962 auf dem Pariser Automobilsalon war es schließlich soweit: Die Fachwelt horchte auf und die Messebesucher machten große Augen, als sie auf dem Alpine-Stand die neue A110 Berlinette mit dem Zusatznamen „Tour de France“ erblickten.

Keiner der damaligen Betrachter konnte ahnen, dass dieses Fahrzeug volle 15 Jahre lang im Programm bleiben und dabei die Rallyewelt auf den Kopf stellen würde. Die bereits bei der A108 durchaus überzeugende Karosserieform wurde liebevoll weiterentwickelt ohne dabei den zierlichen Stil zu verlieren. Das Gesamtfahrzeug ist lediglich 1,13 Meter hoch und 3,85 Meter lang. Dank der weiterhin verwendeten Kunststoffbauweise für die Karosserie (im Renntrimm lediglich 27 Kilogramm schwer), einem Zentralrohrrahmenchassis und dem im Heck verbauten Motor des Renault 8 liegt das Gesamtgewicht anfangs bei niedrigen 565 Kilogramm. Im Laufe der Jahre steigt es durch einige Modellpflegen und andere Motoren zwar an, liegt aus heutiger Sicht mit 730 Kilogramm in der letzten Ausführung jedoch immer noch erstaunlich weit unter der Ein-Tonnen-Marke.

Das Triebwerk mit seinen anfänglichen 956 Kubikzentimetern wird von Rédélé und seinem Team von serienmäßigen 44 auf 52 PS (38 kW) leistungsgesteigert, was in Kombination mit dem niedrigen Gewicht und der strömungsgünstigen Karosserieform ausreicht, um eine Höchstgeschwindigkeit von 170 km/h zu erreichen. Die Kraftübertragung erfolgt dabei wahlweise über ein Vier- oder Fünfgang-Schaltgetriebe. Im Gegensatz zum A108 sitzt der Kühler in der Alpine A110 nicht vor sondern hinter dem Motor, wodurch die seitlichen Kühllufteinlässe wegfallen und durch kleinere Einlässe links und rechts neben der Motorhaube ersetzt werden. Diese erhalten bei den späteren Versionen und speziell für die Rallye-Einsätze kleine „Ohren“, um den Fahrtwind noch gezielter zur Kühlung einsetzen zu können.

Wie schon ihre Vorgängerinnen wird auch die A110 schnell von Motorsportlern als ideales Einsatzgerät entdeckt. Ebenso schnell sprechen sich dabei ihre hervorragenden Fahreigenschaften herum, die zu vielen Bestellungen aus dem In- und Ausland führen. Gleichzeitig entwickelt Jean Rédélé den Wagen kontinuierlich weiter und verbaut immer neue Varianten des von ihm getunten Triebwerks. Je nach Kundenwunsch werden neue Pleuel, größere Einlassventile, schärfere Nockenwellen, neue Kolben, größere Vergaser und eigens gefertigte Fächerkrümmer verbaut, um den Renault-Motoren mehr Dampf einzuhauchen. Dabei haben die Kunden stets die Wahl, ob sie ihr bestelltes Fahrzeug in Wettbewerbs- oder Straßenausführung erhalten möchten. Bereits vier Jahre nach Markteinführung fällt die 80 PS-Marke, womit gleichzeitig bei geduldig niedergedrücktem Gaspedal auf ebener Fahrbahn 200 km/h möglich werden. Zusätzlich sind Varianten der A110 mit den 1,1 Liter-Triebwerken aus dem Renault 8 Major und später aus dem Renault 8 Gordini erhältlich, wodurch die Leistungsschraube stetig weiter angezogen wird. Amédée Gordini selbst, der in der Renault-Szene damals als „Motoren-Hexer“ geachtet war, betätigte sich zusammen mit Marc Mignotet für Rédélé, um immer wieder mehr Leistung unter das leichtgewichtige Kunststoffhäutchen der A110 zu bringen.

1965 bringt Alpine schließlich parallel zum 1 und 1,1 Liter mit der A110 1300/S das vorläufige Topmodell auf den Markt. Dem Gordini-Triebwerk wird mittels Hubraumerweiterung auf 1,3 Liter und dem kompletten Aufgebot des damals möglichen Tunings eine Literleistung von 92,6 PS zuteil – also eine Gesamtleistung von 88 kW/120 PS. Damit rennt „le Turbot“ (der Plattfisch), wie die A110 mittlerweile landläufig gerufen wird, bis zu 228 km/h schnell, was zur damaligen Zeit einen Aufstieg in den Sportwagen-Olymp bedeutete. Um eine bessere Kühlung zu gewährleisten wandert bei der A110 1300 der Kühler vom Heck an die Front. Dies half gleichzeitig der Gewichtsverteilung und damit der Fahrdynamik. Außerdem konnte Jean Rédélé einen Vertriebsvertrag mit Renault einfädeln, wodurch seine Sportwagen nun nicht nur bei den Renault-Händlern gewartet werden konnten, sondern auch dort im Showroom auf Käufer warteten.

Mit Einführung des Renault 16 rückte erneut ein Triebwerk ins Augenmerk der Diepper Truppe und so verwundert es kaum, dass der 1,5 Liter große Aluminium-Motor bereits ein Jahr nach Debüt in der braven Familienlimousine auch in Rédélés Flachmann Dienst schob – natürlich mit mehr Leistung. Als neue Basismotorisierung des A110 brachte er es je nach Version auf 70 bis 90 PS (51 bis 66 kW) und verhalf der Flunder damit bereits zu Geschwindigkeiten zwischen 180 und 190 km/h. Gleichzeitig erhielt die Karosserie eine erste Überarbeitung in Form von zwei fest verbauten Zusatzscheinwerfern an der Front.

Doch zum wahrhaften Geschoss wird die Alpine A110 erst mit der Übernahme des Renault 16 TS-Motors mit 1,6 Litern Hubraum. Das Ingenieurgespann in Dieppe macht sich umgehend an die Arbeit und präsentiert 1969 mit der A110 1600 S einen 102 kW/138 PS starken Sportler, der nun auch bei internationalen Rallyes für Furore sorgen soll. Bislang hatte man sich mit Klassensiegen und Auftritten bei französischen Wettbewerben zufrieden gegeben. Da jedoch 1968 die Sportaktivitäten von Renault und Alpine zusammengelegt wurden und von nun an in Dieppe entschieden wurde, wohin die Fahrt gehen sollte, standen Rallye-Läufe in aller Welt ganz oben auf der Agenda. Und dies nicht ohne Grund, denn bereits beim ersten Einsatz unter gemeinsamer Flagge hätte Gérard Larousse fast die Rallye Monte Carlo gewonnen – einzig der von Zuschauern zur Spannungserhöhung in eine Kurve geschippte Schnee wird ihm und seiner A110 zum Verhängnis.

Sowohl 1300/S als auch 1600 S nehmen schnell ihre Plätze in den Herzen der Zuschauer ein, sind sie doch mit ihren weit heraus driftenden Hecks und den hochdrehenden Saugmotoren ein Fest für Augen und Ohren. Doch Rédélé und sein Team arbeiten bereits an weiteren Waffen und so steigt der Hubraum in der Folgezeit über 1,8 auf 1,86 Liter, wodurch die Leistung auf bis zu 132 kW/180 PS klettert. Als Lohn stellen sich Siege und Titel im Abo ein. Die Rallye Lyon-Charbonnières wird dabei zum Paradestück der Alpine A110: Entsprechende Fahrzeuge gewinnen dort von 1968 bis 1972 ununterbrochen. Aber auch die Coupe des Alpes und die Rallye Korsika, sowie die Rallye San Remo und die Akropolis Rallye gehören zu den Erfolgsschauplätzen des französischen Flachmanns. Dazu gewinnt die A110 1971 die internationale Markenmeisterschaft und 1973 die erstmals ausgetragene Rallye Weltmeisterschaft.

In Dieppe werkelt derweil bereits eine Revolution auf dem Motorenprüfstand: Mignotet verpasste dem Triebwerk der A110 1600 S unter Mithilfe von Jungingenieur Bernard Dudot einen Turbolader, was zu einer Leistungsausschüttung von 177 kW/240 PS führt. Für den ersten Wettbewerbseinsatz wird diese jedoch auf 200 PS (147 kW) heruntergeschraubt, um die Haltbarkeit zu erhöhen. Auch diese Leistungsexplosion benötigt bereits wahre Akrobaten hinter dem Lenkrad – immerhin reden wir hier über die Anfangszeit von Turboladern im Automobilbau und somit von einem drei bis vier Sekunden herrschendem Turboloch mit anschließendem gewaltigen Tritt in den Allerwertesten. Mit Jean-Luc Thérier sitzt jedoch ein äußerst begabter Akrobat am Steuer, dem beim Ersteinsatz direkt der erste Sieg gelingt – gleichzeitig der erste Turbo-Erfolg im europäischen Motorsport. Dudot entwickelt im Anschluss daran die äußerst erfolgreichen Renault-Turbomotoren für die Formel 1 und das 24 Stunden Rennen in Le Mans, sowie das Triebwerk des Renault 5 Turbo.

1971 verlassen 1.029 Exemplare des A110 das Alpine-Werk in Dieppe, wodurch es zum erfolgreichsten Produktionsjahr des Modells wurde. Und das, obwohl im März des selben Jahres mit der A310 bereits das Nachfolgemodell mit auf die Fertigungsbänder geschickt wurde. Die A310 wurde bis 1977 parallel gefertigt und konnte erst danach mit Einführung des V6-Triebwerks Stückzahl-technisch aufgeigen. Bis dahin wurden von der Alpine A110 7.489 Fahrzeuge in Dieppe hergestellt. Das letztgebaute Auto trug übrigens ein eher untypisches Grün anstelle des bis heute bekannten Blau – der französischen Rennsportfarbe. Zusätzlich wurden Lizenzbauten der A110 bei FASA in Spanien, Willys Overland in Brasilien und DINA in Mexiko hergestellt. Sogar jenseits des damals noch allgegenwärtigen Eisernen Vorhangs wurden bei Bulgaralpine in der bulgarischen Hauptstadt Sofia zwischen 100 und 150 Exemplare gebaut – wahlweise sogar als Cabrio.

Bis heute werden die überlebenden Alpine A110 von Liebhabern gehegt und gepflegt. Auch bei einigen Rallyeläufen können die Sportgeräte aus Dieppe bis heute in Aktion betrachtet werden – ob nun in Wertung oder im Rahmen von Showveranstaltungen wie beispielsweise des Eifel Rallye Festivals rund um Daun (dieses Jahr vom 26.-28. Juli). In den letzten Jahren häufen sich die Gerüchte, dass Renault, die seit 1973 die Aktienmehrheit bei Alpine hielten und schließlich 1978 die gesamte Firma übernahm, den Namen mit neuen Sportfahrzeugen wiederbeleben möchte. Einen ersten Ausblick darauf gab das Alpine A110-50 Concept, das kürzlich als Hommage an den 50sten Geburtstag der A110 präsentiert wurde. Schauen wir mal, was uns die kommende Zeit bringen wird und genießen bis dahin einfach den wunderschönen Anblick des Geburtstagskindes – auch nach 50 Jahren noch makellos und faltenfrei.

Quelle: Renault

Autor: Matthias Kierse